Schiffbruch mit Drohne

Zur politischen Ästhetik der Migration

Politik wird mit Metaphern gemacht. Politische Metaphern stiften Sinn in verwirrenden und komplexen Zusammenhängen. Sie bilden Sammelbecken für verschiedene Meinungen und Deutungen. Ihre Anschlussfähigkeit ist sowohl affektiv als auch begrifflich gesehen höher als die technischer Spezialbegriffe. Politische Metaphern vermitteln zwischen Allgemeinem und Besonderem, Öffentlichem und Privatem, Lebenswelt und Expertise. Das volle Boot ist so eine wirkmächtige politische Metapher. „Das Boot ist voll“ bedeutet, dass die Immigration radikal eingeschränkt werden sollte und suggeriert, dass der Staat wie ein Boot wäre, das bei der Aufnahme weiterer Migrant*innen sinken würde. Es bleibt offen, ob man Leute, die aufs Boot klettern würden, wieder ins Wasser stößt, ob irgendwo Land in Sicht ist und ob das Boot ein Rettungsboot ist oder ein Kreuzfahrtschiff. Ob das nun bedeutet, dass man überhaupt keine Aufenthaltstitel mehr vergibt oder nur noch ganz wenige an anerkannte Konventionsflüchtlinge, ob und wie viele Undokumentierte man abschiebt, bleibt vage. Die Metapher gibt also eine politische Richtung vor, lässt aber einen gewissen Interpretationsspielraum. Anstatt Zahlen, Daten, Vorschriften, Gesetze und Programme aufzulisten, vermittelt sie ein für die viele nachvollziehbares Bild.

So wirkmächtig die Metapher des vollen Bootes ist, so falsch ist sie auch. Ein Staat ist kein Boot. Zudem sind einige europäische Staaten eher zu leer als zu voll. Der demografische Wandel übt Druck auf die Sozialsysteme aus und Immigration ist für viele europäische Länder dringend notwendig. Politische Metaphern können den Blick auf komplexe Zusammenhänge demnach auch verstellen, ihre Allgemeinverständlichkeit mit groben Vereinfachungen bezahlen und politische Schlagkraft für falsche Zwecke akquirieren.

Zudem sprechen wir von Symbolpolitik, wenn sich politische Metaphern in vorschnellen Handlungen materialisieren, ohne der Komplexität der Situation gerecht zu werden. Trumps Mauer an der Grenze zu Mexiko ist so ein Symbol. Obwohl klar ist, dass Mauern Migrationsbewegungen nicht aufhalten können, sie eher umlenken und damit die Routen häufig gefährlicher machen, soll diese Grenzmauer errichtet werden, um Handlungsmacht zu demonstrieren und von sozialen und politischen Problemen abzulenken.

Da wirkmächtige Metaphern in der Lage sind die politische Stimmung aber auch konkret die Grenzen zu gestalten, können sie in den falschen Händen viel Schaden anrichten. Sollte deshalb ein rationalerer politischer Diskurs geführt werden, der auf Metaphern verzichtet? Plato hatte einmal vorgeschlagen die Politik durch vollständig rationalisierte Entscheidungen abzuschaffen und ihr so die Vieldeutigkeit und Unabgeschlossenheit zu nehmen. Eine solche technokratische Expert*innenpolitik würde den Bürger*innen aber keinerlei Spielraum lassen. Sie wäre alternativlos, hätte keine Schlupflöcher und Hintertüren mehr. Politik ohne Metaphern wäre hart und kalt wie ein Diamant. Gemeinsam Entscheidungen zu treffen ist nur mit Hilfe einer gewissen Vieldeutigkeit und Offenheit möglich, die die politische Metaphorik bietet, da sie den politischen Raum öffnet, Spielräume für Interpretationen lässt, Konflikt und Diskussionen ermöglicht. Die technischen Sprachen des Rechts und der Verwaltung müssen um ästhetische, atmosphärische und affektiv wirksame Bilder ergänzt werden. Migrationspolitik ist ein notwendiger Übersetzungsprozess, was aber nicht bedeutet, dass jede Metapher hingenommen werden muss; Eine Kritik der Übersetzungen ist unerlässlich. Für eine solche Kritik der politischen Metaphorik kann die Philosophie Impulse geben.

Wittgenstein hatte einmal beklagt, dass sich der Bereich des klar Sagbaren wie eine Insel im gewaltigen Ozean des Unsagbaren ausnähme und alle wirklich wichtigen Dinge nicht präzise gesagt werden könnten. Wie man in Wittgensteins Metapher sehen kann, greift auch die Philosophie auf poetische Bilderwelten zurück. Um komplexe Probleme zu begreifen und zu bearbeiten, sind Metaphern auch für die Philosophie unerlässlich, wenn sie eine öffentliche Praxis sein will und nicht nur ein Spezialgebiet der Wissenschaft.

Die politische Philosophie lässt sich darum auf Analogien und Bilder ein, wenn sie die komplexen Probleme der Migrationspolitik kommentiert. Die analytische Moralphilosophie ist beispielsweise nie um eine Metapher verlegen. Staaten werden mit Clubs verglichen und sollen dann entscheiden dürfen, wen sie aufnehmen und wen nicht, oder sie werden Bademeistern gleichgesetzt, die alle, die in Not sind, aus dem Wasser ziehen müssen. Auch diese Metaphoriken lassen sich in verschiedene Richtungen ausdeuten und bieten einen guten Ausgangspunkt für philosophisch-politischen Streit. So könnte man im Bild des Bademeisters die Pflicht Leben zu retten betonen. Man könnte aber auch den peniblen Ordnungssinn und die willkürliche Grausamkeit, die manche Bademeister an den Tag legen, in den Vordergrund rücken und käme dann zum Bademeister als einer kafkaesken Metapher für den Staat. Auch die Übersetzung der Migrationspolitik in das Bild des Clubs stößt an ihre Grenzen, ist die Funktion von Clubs doch wesentlich partikularer als die von Staaten und zudem ist der Verlust der Staatsbürger*innenschaft nicht vergleichbar mit dem Verlust einer Clubmitgliedschaft.

Der philosophische Streit um wirkmächtige Metaphern schließt direkt an die politischen Aushandlungen an, liefert Bildmaterial und einen Raum, in dem politische Metaphern kritisch beleuchtet werden können. Zudem hat die Philosophie den langen Atem, nach den Weltbildern und dem Selbstverständnis zu fragen, die in der politischen Metaphorik impliziert sind.

Im Anschluss an Wittgensteins Inselmetapher wagte sich der Philosoph Hans Blumenberg ins Meer der Unbegrifflichkeit, um die Lebenswelt mit den Spezialsprachen zu versöhnen. Mit Blumenberg ist die Metapher mehr als ein Medium für politische Kommunikation, mit dem sich viele Menschen erreichen und versammeln lassen: Metaphern sind eine fundamentale Art Sinn zu stiften, auch dort, wo wir nur wenig oder nichts wissen. Ohne Metaphern wären wir demnach orientierungslos. Die Metapher ist eine Art des Weltverstehens, das sich nicht entzaubern und durch Wissenschaft und Technik austreiben lässt. Mit Blumenberg lässt sich die Analyse der politischen Metaphorik um eine Tiefenstruktur der Welterschließung anreichern, die in den großen Metaphern eine philosophische Reflexion auf unser Selbstverständnis sieht. Auch die politischen Metaphern können dann philosophisch interpretiert werden und die politische Öffentlichkeit kann als ein Raum verstanden werden, in dem wir auch auf einer philosophischen Ebene grundlegend über unser Selbstverständnis verhandeln. Große politische Metaphern bestimmen nicht nur über politische Programme, sondern stiften auch einen fundamentalen Sinn, indem sie vorzeichnen, wer wir sind und wer wir werden könnten.

Blumenberg hat eine Analyse einiger großer Metaphern hinterlassen. Bekannt geworden ist seine Genealogie der Metapher des Schiffbruchs. Blumenberg findet die Metapher des Schiffbruchs überall in der europäischen Geschichte und deutet sie als Bild für die existenzielle Lage der Menschen. In seiner Genealogie des Schiffbruchs forscht er den verschiedenen Verwendungen der Metapher nach und macht drei größere Brüche in der Darstellung des Schiffbruchs aus.

Da ist zum einen die Einführung eines erhabenen Zuschauers durch Lukrez im 1. Jh. v. Chr. Dieser Zuschauer betrachtet den Schiffbruch vom sicheren Land aus. Er geilt sich dabei nicht am Leid der anderen auf, er wird sich vielmehr seiner eigenen, sicheren Position bewusst. Dieses Bewusstsein des festen Standpunkts ist das Selbstbewusstsein eines kontemplativ Betrachtenden, nicht die Involviertheit eines*r Arbeitenden. Es ist ein Modell der Subjektivierung, eine Aufforderung nicht in den Wirren des Lebens zu versinken, sondern eine sichere und ruhige Zuschauer*innenposition einzunehmen.

Den zweiten Bruch findet Blumenberg in der Neuzeit, die die antike Kontemplation durch das experimentelle Tun und die Kolonisierung ersetzt. Der Schiffbruch wird in der Neuzeit als Folge eines Wagnisses interpretiert, das eingegangen werden muss, will man sein Leben nicht mit Langweile verschwenden. Nicht mehr die ruhige Kontemplation vom festen Land sondern Neugier und Risikobereitschaft der Kolonialisten und Forschenden werden nun attraktiver als der sichere Standpunkt.

Die Moderne lässt den Zuschauer in einem dritten Bruch schließlich ganz wegfallen. Der sichere und feste Standpunkt, von dem aus das Scheitern der Welt betrachtet werden könnte, verschwindet aus der Metapher. Die Modernen treiben alle durch einen gewaltigen Schiffbruch und versuchen aus den Trümmern der zerbrochenen Schiffe neue Schiffe zu bauen oder die Schiffe auf der Fahrt umzubauen und zu erweitern. Während die Fortschrittsgläubigen diesen Schiffbau während der Fahrt als konzertierte Aktion, angeleitet von Wissenschaft und Technik, vorstellten, finden sich die Postmodernen mit der ekklektizistischen Bastelei zu irgendwie schwimmenden Flößen statt. Doch das ist schon eine spekulative Fortsetzung von Blumenberg, dessen Erzählung mit der Moderne abbricht.

Seit die Migrationsbewegungen ein zentrales politisches Thema in Nordeuropa wurden, wird die Metapher des Schiffbruchs ausgiebig verwendet. In dieser Verwendung der Metapher des Schiffbruchs spiegeln sich ein philosophisches und politisches Selbstverständnis, das eine weitere Untersuchung einfordert. Im Anschluss an Blumenberg lohnt sich ein zweiter Blick auf das viel gezeigte Pressefoto von Massimo Sestini aus dem Jahr 2014. Es zeigt ein voll besetztes Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer aus der Vogelperspektive.

Die Vogelperspektive wendet Blumenbergs Genealogie des Schiffbruchs ein weiters Mal: Die Zuschauenden werden wieder eingeführt. Anstatt auf dem festen Land zu stehen, hat sich die Zuschauer*innenposition aber in die Luft erhoben. Diese flüchtige Position verweist auf die Kontroll- und Sicherheitstechnologie als Medium der Reflexion. Gottesgleich blickt die Kamera aus dem Himmel. Zwar wurde die Fotografie noch von einem Fotografen gemacht, die Vogelperspektive weist aber über den*die menschliche Betrachter*in hinaus. Einzig die nach oben schauenden boat-people, von denen einige die Arme ausbreiten, machen klar, dass die Aufnahme aus einem Hubschrauber aus gemacht sein muss. Aus diesem Winkel würden aber auch die Drohnen und Satelliten des Grenzregimes den drohenden Schiffbruch überwachen.

Die Vogelperspektive der Zuschauenden ist keine Rückkehr zur antiken Kontemplation, die nach Wahrheit strebt. Es ist eine bewege Form der Kontrolle, deren Ziel der möglichst effektive Eingriff ist. Die gewaltigen Informationsmengen, die durch Überwachung angehäuft werden, werden mit Hilfe intelligenter Programme geordnet und sollen Prognosen über die Zukunft ermöglichen. Präemptive Eingriffe resultieren aus dieser Beobachtungsform. Noch bevor sich die Ereignisse entfalten, soll ein gezieltes Eingreifen an entscheidenden Orten möglich werden, das die Zukunft wesentlich verändert. Das Experimentierfeld dazu bietet der Krieg gegen den Terror, in dem die Drohnen mit Waffen bestückt werden.

Auch in einem zweiten Punkt unterscheidet sich die Vogelperspektive des 21.Jh. von der antiken Kontemplation. Während die Kontemplation eine Perspektive einnimmt und von diesem Standpunkt aus die Wahrheit fasst, ist die Vogelperspektive umfassender. Ihre Bewegung ist der Zoom durch alle Größenordnungen. Die Perspektive des Kontrollapparats ist multiskalar und global. Damit unterscheidet sie sich auch von der experimentellen Involviertheit der neuzeitlichen Kolonialisten: Die Drohne ist die Maschine, die das Wagnis überflüssig macht. Aus der Involviertheit wird eine globale Steuerung, die aus den gewaltigen Datensätzen der Überwachung die effektivsten Eingriffsmöglichkeiten berechnet. Nicht das koloniale Wagnis oder das Experiment sind ihr Paradigma, sondern die Simulation, die Hochrechung aufgrund statistischer Werte, deren Ziel der präzise Eingriff ist.

Die Zuschauer*innenposition der gegenwärtigen Schiffbrüche ist die einer kontrollierenden Macht, die jeden Strom und jede Bewegung steuern möchte, einerseits um Gewinn abzuschöpfen andererseits aber vor allem um mächtiger zu werden: Ziel ist es Gamechanger zu sein und die Ströme zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit minimalem Aufwand umzuleiten. Von der antiken Kontemplation über das neuzeitliche Wagnis kann Blumenbergs Genealogie zur Steuerung fortgeführt werden. Subjekt werden wir, wenn wir steuern. Allerdings nicht mehr wie ein Steuermann oder eine Steuerfrau auf einem Schiff anhand der Sterne, sondern aus dem real gewordenen Ideenhimmel heraus.

Die Hierarchien in Sestinis Bild sind alles andere als flach, wie das noch im modernen Bild des Schiffbruchs, in dem alle im Wasser ums Überleben ringen, gespiegelt wurde oder wie das die Rechte versucht zu suggerieren, indem sie uns alle zu Schiffbrüchigen macht. Europa schaut durch hochgerüstete Hightech auf die Migrant*innen, die teilweise nur dabei haben, was sie am Körper tragen. Sestinis Bild liefert eine humanitäre Perspektive auf das bloße Leben: Der Westen schaut aus der Höhe auf das nackte Leben der Schiffbrüchigen. Die Migrant*innen tauchen darin als handlungsunfähige Objekte auf, denen durch Charity und humanitäre Unterstützung geholfen werden muss, deren Leben gerettet werden muss. Sie werden zum Auslöser humanitärer Einsätze, die dort, wo staatliche Zuständigkeiten fraglich werden, ausgerufen werden, um Leben und Sterben zu verwalten. Die technologisch hochgerüstete Grenz- und Kriegsmaschinerie wird in einem ihrer humanitären Einsätze gezeigt. Das Bild zeigt Europas Möglichkeit zu Handeln, seine Überlegenheit und Stärke.

Die Crux der humanistischen Perspektive liegt in dieser Hierarchisierung. Sie markiert einen Bereich außerhalb der Ordnung der Staaten, in dem Menschen auf ihr nacktes Leben reduziert werden. Zugriff auf dieses nackte Leben wird dann möglich gemacht, durch die Reproduktion des Notstands, der von der seltsamen Assoziation von Militär, Polizei, privaten Firmen und NGO’s verwaltet wird. Die Tragik des humanitären Blicks liegt darin, dass er das, was er bekämpfen will, beständig selbst reproduziert: das nackte Leben. Die hierarchische Perspektive des Bildes zeigt eine Machtkonstellation, die oben und untern klar bestimmt. Damit reproduziert es das Machtgefälle und bleibt der Metapher des einseitigen Schiffbruchs treu. Die da unten erleiden Schiffbruch und die da oben bringen mit ihrer technologischen Überlegenheit die Rettung.

Wenn wir Blumeberg folgen und in der Schiffbruchsmetapher ein Selbstportrait erkennen, zeigt es die Europäer*innen als technologisch hoch gerüstete, aus der Luft agierende Handelnde, die das nackte Leben überwachen und steuern. Mit Foucaults Begriffen der Kontrolle und der Biopolitik lässt sich dieses europäische Selbstverhältnis fassen: Die Europäer*innen sind diejenigen, die das nackte Leben überwachen und kontrollieren.

Was Sestinis Bild nicht zeigt, sind die Migrant*innen selbst. Sie werden als Masse dargestellt, Individuen sind kaum erkennbar. Das nackte Leben hat keine Perspektive, es wird nur als Objekt behandelt und nicht als Subjekt. Es sind nun aber nicht nur das Militär und die Grenzpolizei, die über die Steuerungsperspektive verfügen. In rudimentärer Version findet sich die Steuerung auch bei den Migrant*innen, die ihre Position per Smartphone abgleichen und versuchen aus informellen Netzwerken eine möglichst große Menge an Daten zu gewinnen, auf Grundlage derer Entscheidungen über Routen getroffen werden. Sestinis Bild lässt das außen vor und antwortet nicht auf die Frage, wer die Migrant*innen sind. Um diese Fragen zu klären, müsste die Perspektive radikal gewendet werden und andere Metaphern für die Migration über das Mittelmeer gesucht werden.

Eine horizontalere Geschichte des Schiffbruchs wurde über die Schwestern Yusra und Sarah Mardini erzählt. Die beiden Schwimmerinnen hatten mit anderen Insassen ein leckes Boot schwimmend nach Lesbos gezogen und alle Insassen gerettet. Yusra trat später bei den olympischen Spielen 2016 an. Ihre Geschichte ist beeindruckend, doch warum funktioniert sie als politische Metapher, die es in die Massenmedien schaffte? Die Geschichte zeigt, dass die Schiffbrüchigen aus Syrien einer säkularen, disziplinierten und gebildeten Mittelschicht angehören, die sich schnell integrieren und auf eigenen Füßen stehen können. Sie vermeidet den humanitären Blick und erzählt von den demütigen Held*innen, die Leben retten und dabei ganz bescheiden bleiben. Es schwingt die Behauptung mit, dass alle die Flucht und den sozialen Aufstieg schaffen könnten, wenn sie hart arbeiten. Die Metapher erzählt zudem die Erfolgsgeschichte des Feminismus. Da die Mädchen Schwimmen lernen konnten und auf dem Weg waren Profisportler*innen zu werden, konnten sie im entscheidenden Moment Leben retten.

Es ist eine Geschichte des Schiffbruchs, die ohne kontrollierende Zuschauer*innen auskommt, da sich die Flüchtenden selbst kontrollieren. Das Interview und das Portrait sind ihre ästhetischen Formen. Der feministische Impuls, die Handlungsfähigkeit und das Verantwortungsgefühl, die den Flüchtenden zugeschrieben werden, emanzipieren sie im Verglich zum nackten Leben, das aus der Vogelperspektive betrachtet wird.

Die Perspektive, aus der diese Geschichte erzählt wurde, war zumeist eine, die behauptete, dass die Flüchtenden so wären, wie „wir selbst“ wären. Darin zeigt sich gleichzeitig die Begrenzung der Perspektive dieser Held*innengeschichte. Die Identifikation mit den Schwimmerinnen glättet die Geschichte zu einer märchenhaften Erzählung eines starken Subjekts, das durch Selbstdisziplin führen kann. Es ist die Geschichte der sozialen Markwirtschaft: Die wenigen Unternehmer*innen, die sich selbst führen können, sorgen für die Schwächeren und ziehen das Boot. Die Emanzipation durch Bildung und Disziplin macht das möglich. Die Migrant*innen, die Europa erreichen, werden durch den Schiffbruch zu Europäer*innen.

Wieder finden wir uns in der Geschichte des Schiffbruchs selbst und sind einem Perspektivwechseln nur ein wenig näher gekommen. Es fehlen Bilder, die die Perspektive der Migrant*innen einnehmen und dabei weder in humanitären Katastrophenbericht oder Assimilationsgeschichte abdriften. Dadurch bleibt offen, welche neuen Subjekte durch den Schiffbruch geschaffen werden. Die Geschichten der Migrant*innen von ihrer Überfahrt müsste im politischen Diskurs Europas eine Stimme bekommen. Sie aus dem Diskurs heraus zu halten und ihnen politische Rechte vorzuenthalten, fordert eine politische Ästhetik der Abschottung, die sich erschreckend schnell in Zäunen, Mauern du Lagern manifestiert.

Der Kampf um die Hoheit über Schiffbruchsmetapher könnte über die europäische Zukunft entscheiden. Denn der Schiffbruch ist nicht irgendeine politische Metapher. Die Metapher des Schiffbruchs markiert historische Umbrüche, indem sie im eine neue Subjektivität und eine neue Gemeinschaft entstehen lässt. Sie findet sich daher in vielen Gründungsmythen. Odysseus erleidet jahrelangen Schiffbruch, bis er am Ende wieder nach Hause und zu sich selbst findet. Dieser Schiffbruch markiert hier Ende eines mythischen Weltbildes und steht für ein neues Selbstbewusstsein der griechischen Bürger. Moses Schiffbruch im Binsenkörbchen leitet den Auszug der Israeliten aus Ägypten ein. Jesus wandelte übers das stürmische Wasser des Sees Genezareth, versammelte so die Gemeinschaft der Menschenfischer und gründete das Christentum.

Wieder einmal ist der Schiffbruch zur zentralen Metapher für einen politischen Umbruch und gleichzeitig zur grausamen Realität geworden. Die Reaktionen auf diesen Schiffbruch und die Geschichten, die wir uns über ihn erzählen, werden entscheiden, wer wir selbst sind und in welcher Form von Gemeinschaft wir leben werden. Die Kontrollperspektive auf das nackte Leben und die emanzipatorische Assimilationsgeschichte der Schwimmerinnen sind zwei Möglichkeiten den aktuellen Schiffbruch zu fassen. Es sind beides ängstliche Möglichkeiten. Welche anderen Bilderwelten des Schiffbruchs wären möglich? Welche neuen Subjekte und welche neue Gemeinschaft könnten aus dem Schiffbruch im Mittelmeer entstehen? Anstatt uns die Geschichten der Abschottung und der Assimilation zu erzählen, könnten wir beginnen, gemeinsame Geschichten zu finden, transnationale Geschichten, transeuropäische Geschichten. Der Schiffbruch könnte auch die Geschichte der Entstehung eines politischen Gemeinwesens fassen, dessen Zentrum nicht in Brüssel, Berlin oder Straßbourg liegt, sondern mitten im Mittelmeer. Die politische Metaphorik dafür muss erst noch erschaffen werden.

Die Frau und das Meer

Über dem aufgegebenen alten Hafen steht eine Frau aus Stein und schaut auf den Atlantik. Auf der Plakette am Sockel steht: Frau eines Fischers. Im Dorf gibt es kaum mehr Fischer. Bei Sturm werden schillernde Quallen angespült, portugiesische Galeeren, mit ihren meterlangen Tentakeln. Ansonsten kommen täglich europäische Tourist*innen und sammeln sich abends in den Restaurants.

Neben der Statue sitzt M. auf ihrer Terrasse und singt Popsongs. Sie vermietet ihr Schlafzimmer übers Internet und mit einem bunten Pappschild im Fenster. Wenn Touristen da sind, zieht sie mit ihrem Sohn auf das Sofa ins Wohnzimmer. Trotz der malerischen Lage ihres Hauses und des mit Abstand niedrigsten Preises im Dorf ist sie damit nicht allzu erfolgreich. Sie kommt gerade so durch.

In ihrem Fenster steht eine Kopie der Frauenstatuen der indigenen Guanchen. Die Tonstatue wartet nicht auf irgendjemanden, sie ruht im Schneidersitz auf ihren gewaltigen Oberschenkeln. Bei Ausgrabungen war man auf diese Tonstatuen gestoßen und hatte auf eine maternalistische, indigene Kultur geschlossen. Die Kolonisation hat diese Kultur größtenteils vernichtet. Wer nicht in den indigenen Rebellionen getötet worden war, wurde durch ein hartes Arbeits- und Reproduktionsregime unterworfen. Die indigene Kultur löste sich in der Kultur der Kolonisatoren auf und geblieben sind nur noch einige Hybride, wie die Pfeiffsprache „El Silbo“ oder die traditionellen Ringkämpfe, die sich als Touristenattraktionen vermarkten lassen und gleichzeitig sozialen Zusammenhalt schaffen.

M. war vor einem Jahr von Gran Canaria aus mit der Fähre gekommen, war vorbei gefahren an den stählernen Skeletten der Ölbohrplattformen, die im Hafen von Las Palmas liegen, nach und nach abgewrackt werden. M. und ihr Sohn waren in das malerisch herunter gekommene Haus auf Fuerte Ventura gezogen, in dem ihr Vater bis zu seinem Tod gewohnt hatte. Schräg gegenüber liegt ein Restaurant, das nicht nur Fisch und Meeresfrüchte serviert, sondern auch als Umschlagplatz für Kokain und Marihuana dient. Zwielichte Gestalten nutzen den Nebeneingang, was den Tourist*innen aber nicht auffällt, die ihr Sohn und seinen Freunden beim Ballspielen zuschauen und den Blick aufs Meer genießen, über dem die bunten Segel der Kitesurfer*innen tanzen.

Zweimal pro Woche kommt ein Rockerpärchen vorbei und untermalt die Sehnsucht der angereisten Städter*innen mit Musik. Sie legen ein Stromkabel aus dem Restaurant, stellen ihr Equiment auf den Sockel der Frauenstatue direkt vor M. Haus und spielen ihr immergleiches Programm. Die beiden großen Boxen beschallen den ganzen Hafen. Manchmal tanzen angetrunkene Tourist*innen.

M. kennt mittlerweile jede Zeile und jeden Riff des Programms. Sie ist genervt von der Melancholie und Tristesse der Songs. M. selbst singt lebensfrohe Popsongs, die Geschichten aus der ganzen Welt erzählen. Vielleicht wartet die Statue vor der Tür nämlich nicht nur auf die Heimkehr der Männer, vielleicht träumt sie sich hinaus über den Atlantik und wartet auf eine Gelegenheit, die Insel endgültig zu verlassen. M. übt Gitarre und nimmt Gesangsstunden, um bald in den Restaurants auftreten zu können.

Jeden Dienstag und Donnerstag fragt M. die beiden Rocker*innen, ob sie nicht leiser spielen könnten, aber die zucken nur mit den Schultern. Die Tourist*innen würden es mögen. Der Besitzer des Restaurants zahle eine kleine Gage. Der Platz sei ideal und sie kämen ja nur zwei Mal die Woche.

Ihr Kind kann zwei Mal die Woche nicht schlafen. M. hat darum versucht die Polizei zu holen, damit wenigstens ab 22h Ruhe ist. Manchmal kam die Polizei sogar, aber jedes Mal verschwand sie im Restaurant, um danach tatenlos abzuziehen.

In zwei Wochen hat M. ihr erstes Konzert in einem Restaurant am neuen Hafen. Sie übt den ganzen Tag. Seit Donnerstagmittag sitzt sie auf der Terrasse und singt. Die Band baut auf und beginnt zu spielen. Sie singt einfach weiter, auch wenn sie nicht ankommt gegen die Lautsprecher. Eine Freundin kommt vorbei und summt mit. M. steht auf und geht zielstrebig ins Restaurant. Sie streitet sich mit dem Besitzer, vor den Gästen.

Sie kommt totenblass zurück und stolpert ins Haus. Eine Freundin hinterher.

„Er ruft die Menschen an, die Kinder holen.“

Sie läuft hektisch um den Tisch.

„Er nimmt mir meinen Sohn weg.“

Die Freundin hält sie fest und legte ihr die Hände auf die Schultern.

„Was hat er gesagt?“

„Er hat gesagt, wenn ich nicht aufhöre zu singen und mich noch einmal beschwere, ruft er die Menschen an, die kleine Kinder mitnehmen, und nimmt ihn mit weg. Er ist gefährlich. Er dealt Koks.“

Die Freundin setzt M. auf einen Stuhl am Tisch und holt ein Glas Wasser. Dann geht sie raus und kommt mit der Rockerin zurück. M. schluchzt aufgelöst. Die drei Frauen sitzen am Tisch.

„Er blufft nur.“, sagt die Rockerin tröstend, „er ist auf Koks.“ 

„Wie könnt Ihr für so ein Monster spielen?“

„Wir…“

„Er darf das nicht tun! Ich rufe die Polizei! Ich…“

Die drei sitzen da.

„Wir werden aufhören heute. Und wir werden leiser spielen, vor allem nachts.“

M. weint leise. Die Freundin streichelt ihren Rücken.

Die beiden Rocker packen ihr Equipment ein. Die Tourist*innen essen Fisch. Die Guanchenstatue sitzt im Fenster. Die Frau aus Stein schaut aufs Meer.