Über Einsamkeit und Protest in Zeiten der Vielfachkrise
Der Lockdown überfordert mich zunehmend. Jeden Tag irre ich stundenlang im Internet herum, wobei ich selbst nicht sagen kann, was ich da suche. Die warme Gemütlichkeit des Sofalebens ist einer beengenden Tristesse gewichen. Je länger mein öffentliches Ich nicht mehr in Aktion tritt, desto hemmungsloser lasse ich meinen Trieben freien Lauf. Der tägliche Empörungslivestream der social media liefert recht ungefiltert Hass, Wut und Liebe und die User:innen pöbeln und schreien sich so ungeniert und ungefiltert an, wie sie auf anderen Seiten ihr Bedürfnis nach Pornografie und Gewalt stillen. Ohne den Kontrast des öffentlichen Raums, verkommt das Privatleben zu einem Ausleben niederer Instinkte. Alle streiten sich. Bei mir im Haus sind im Zuge der Lockdowns schon zwei Väter ausgezogen. Das liegt in der Logik der privaten Nahwelt, die sich so schwer tut Unterschiede, Distanz und Vielfalt zuzulassen. Gewalt ist die Folge dieser Enge und Depressionen. Die Hölle, das sind die anderen.
Die einzig nennenswerte politische Protestbewegung, die in der Coronakrise einen Ausgang aus der unverschuldeten Privatheit verspricht, ist auf den zweiten Blick allerdings leider keine politische, sondern eine private. Meine Mutter hat das sofort verstanden: Die sogenannten Coronakritiker:innen suchen letztlich Liebe. Darum wollen sie keine Masken zwischen sich und darum herzen sie sich so inbrünstig. Die Coronademonstrationen sind private Bewegungen, getrieben von vereinsamten und verlassenen Menschen, die auf der Suche nach Nähe, Zärtlichkeit, Anerkennung und Intimität sind. Das zeigt sich nicht nur in der Masse der Evangelikalen, die in den Protesten mitlaufen und Impfungen und Mundschutz durch das Blut und die Liebe Christi ersetzen wollen. Es zeigt sich auch in den hippiesken Näheorgien aus Umarmungen, Tänzen, Trommeln und Wohlfühlesoterik, deren Holismus das Private und das Öffentlichen und überhaupt auch alles anderen zu einem Einheitsbrei zerkocht. Anschlussfähig ist die Nahweltmetaphorik von der Liebe aber auch für die rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen und Parteien, die schon immer die identitäre Verschmelzung des wahren Volkes propagierten und meinen die Nation wäre ein Haus, die Partei eine Familie und die Öffentlichkeit eine Wirtsstube.
Neben diesen drei Randgruppen der politischen Distanzlosigkeit, werden die Proteste aber vor allem von Menschen getragen, für die politische Handlungen Neuland sind. Oliver Nachtweys Studie zu den Demonstrationen zeigt, dass die meisten Teilnehmenden dabei zum ersten Mal politisch aktiv wurden. Sie erleben ihre ersten Massenproteste so intensiv, dass sie die eigenen Märsche gleich für millionenstarke Bewegungen halten. Sie denken außerdem, dass sie für Freiheit kämpfen würden und das ist nur dann verständlich, wenn man annimmt, dass sich ihre kleinen Protestorgien für sie anfühlen, wie eine sexuelle Revolution. Dazu passt gut, dass die Ehe einer Bekannten in den Protesten und den Ausflügen in die Hauptstadt, in nächtlichen Debatten und gemeinsamer Erregung ein neues Fundament gefunden hat. Die meisten gehen aber wohl nicht zur Rettung ihrer Beziehungen, sondern allgemein wegen ihrer Isolation, ihrer Verlorenheit und ihrer Beziehungsarmut auf die Straßen. Niemand kann schließlich ewig allein in der Badewanne bleiben.
Diese innere Leere wäre ein guter Ausgangspunkt für eine Politisierung, würde sie von politischen Protestbewegungen katalysiert. In den privaten Massenbewegungen wird sie aus Mangel an überzeugenden Alternativen allerdings leider verschwörungstheoretisch gekapert. Das perfide an Verschwörungstheorien ist, dass sie einen Keim von Wahrheit enthalten. Diesen Keim ersticken sie dann aber mit Empörung, Wut, Antisemitismus, Rassismus und Gruselgeschichten. Das wissen ihre Anhänger:innen auch selbst. Niemand glaubt wirklich an Verschwörungstheorien und sie werden deshalb mehr geraunt als erzählt: „Es könnte ja sein, dass…“ Dieses Ohr-an-Ohr-Geraune bleibt notwendigerweise privat, da sich Verschwörungstheorien öffentlich überhaupt nur andeuten und nicht überzeugend erzählen lassen. Verschwörungstheorien erzeugen verschwörerische Sekten und keine politischen Öffentlichkeiten. Es sind letztlich Gruselgeschichten und es ist kein Zufall, dass die aktuellen Versionen Vampir- und Zombiegeschichten ähneln. Sie bergen aber auch einen wahren Kern. Das gilt auch für die Schauergeschichte QAnon. Es stimmt ja irgendwie, dass vielen Menschen die Lebenskraft, oder eben symbolisch das Blut, ausgesaugt wird und andere daraus Gewinn schöpfen. Ausbeutung nannte Karl Marx das und hier liegt der Kern des Problems der Protestbewegungen: Die Politneulinge machen ihre ersten politischen Erfahrungen traurigerweise in einer Melange aus Esoterik, Evangelikalismus und Rechtsextremismus. Das ist deshalb traurig, weil sie dadurch gezwungen werden auf Verschwörungstheorien anstatt auf handfeste politische Theorien zurückzugreifen.
Hannah Arendt kritisierte die Massengesellschaft, weil in ihr die öffentliche und politische Welt „die Kraft verloren hat zu versammeln, das heißt zu trennen und zu verbinden.“ Diese Kraft zu versammeln versteht sie wie einen Tisch, der eine spezifische politische Distanz einrichtet. Anstatt wie auf dem Sofa ineinander zu fallen, setzt mensch sich am Tisch immer gleichzeitig zusammen und auseinander. Im Gegensatz zum Geraune der Verschwörungstheorien schafft der Tisch eine politische Distanz zwischen Menschen und er garantiert allen einen eigenen Standpunkt und eine eigene Perspektive. Diese politische Distanz heißt auch Solidarität und sie kann durch plurales gemeinsames politisches Handeln immer wieder erneuert werden. Das ist teils sehr einfach, beispielsweise durch das Tragen einer Maske und die gemeinsame Sorge für alle, die in der Pandemie besonders verletzlich sind. Doch leider sind die zentralen Werte der modernen Massengesellschaften wirtschaftliche Freiheit und national-soziale Gleichheit und eben nicht Solidarität. Die Solidarität fällt in der Verschmelzung von privaten und öffentlichen Räumen unter den Tisch, wofür die Liebes- und Hassorgien der social media ebenso einstehen können, wie Trumps Liebesgeständnisse an das eigene Volk oder die Intimität der Coronaproteste.
Was wir mit Corona erleben, ist keine einmalige Krise. Es ist die Zuspitzung eines langen Verfalls der Solidarität durch die Privatisierung der politischen Freiheit zu einer rein wirtschaftlichen Freiheit des Konsums, der immer auf Kosten der anderen und der Gemeingüter geht. Wir erleben die Folgen von Jahrzehnten der neoliberalen Aushöhlung der sozialen Institutionen der Gleichheit, die sowieso schon immer nur mit dem richtigen Pass zu haben waren und die immer exklusiver werden. Corona macht Arendts Kritik an der modernen Massengesellschaft brandaktuell: Die Coronakrise ist kein Ausnahmezustand. Sie ist die logische Konsequenz des neoliberalen Kapitalismus. Am Grunde der Einsamkeit der Menschen liegen nicht der Virus und die getroffenen Maßnahmen, sondern eine gesellschaftliche Organisationsform, die den öffentlichen und den privaten Raum gleichzeitig zerstört hat. Die kapitalistischen Massengesellschaften organisieren sich um Arbeit und Konsum, anstatt um Solidarität und gemeinsames Handeln. Hier liegt das zentrale Problem, auf das die extreme Privatisierung Coronas aufmerksam macht: Freiheit bedeutet nur noch die Freiheit zum privaten Konsum. Freiheit wird im neoliberalen Kapitalismus als Eigentum der privilegierten Mittelschichten verstanden, als ein Recht auf Tourismus, migrantische Sorgearbeit und Konsum. Arendt hatte Freiheit als öffentliches Handeln in Solidarität verstanden. Wenn auf den Coronaprotesten Freiheit und Liebe skandiert wird, dann zeigt das klar, dass damit nicht gemeinsames Handeln in Solidarität gemeint ist, sondern die Wahlfreiheit zwischen Schnorcheln in Ägypten und Safari in Thailand.
Es kann in diesem Desaster nicht wie in all den Krisen der letzten Jahre um die Suche nach einem schnellen Fix gehen. Wie viele Krisen mehr braucht es denn noch, bis die Wurzeln der Probleme angegangen werden? Die Pandemie legt die desaströsen Zustände des Öffentlichen, Privaten und Sozialen offen. Politik wird als Management des Krisenlivestreams missverstanden. Die Angst vor totalitären Regimen, die verschwörerisch geflüstert wird, steht in krassem Kontrast zur Überforderung der Regierungen wirksame Maßnahmen durchzusetzen und länger als wenige Wochen im Voraus zu planen. Die Lockdowns sind ein verzweifeltes Eingeständnis politischer Ohnmacht. Die Inszenierungen der starken Männer zerbröseln, sobald sie mit einem tatsächlichen Problem konfrontiert werden und nicht nur die öffentliche Meinung surfen, sondern tatsächlich handeln müssten. Doch nicht nur die Schwäche der Öffentlichkeit auch die desaströsen Zustände im Sozialen und Privaten werden deutlich: Der Pflegenotstand ist das deutlichste Symptom einer Vernachlässigung und Verwahrlosung der Sorge für das Leben selbst. Warum sperren wir pflegebedürftige Menschen zu Hunderten in Heime? Warum sind Care-Worker:innen so schlecht bezahlt? Welche rassistischen Strukturen machen es möglich, dass migrantische Pflegekräfte über Monate 24h-Betreuung von alten Menschen leisten müssen und in der Agrar- und Fleischindustrie unter katastrophalen Bedingungen gearbeitet wird.
Das Problem ist nicht Corona. It’s capitalism, darling.
Literatur:
Oliver Nachtwey, Robert Schäfer, Nadine Frei: Politische Soziologie der Coronaproteste, https://osf.io/preprints/socarxiv/zyp3f/, abgerufen am 19.01.2021
Hannah Arendt: Vita Active oder Vom Tätigen Leben, Piper Verlag, München 2007, S.66.