Endlich Streit!

Die Menschen reden nicht mehr miteinander und wenn doch, dann schreien sie sich Hitlervergleiche an den Kopf oder gehen gleich aufeinander los. Ist diese Krisendiagnose gestellt, sind die Schuldigen dafür meist schnell gefunden: Die sozialen Medien fingen die Menschen in ihren Filter Bubbles und Echo Chambers ein und radikalisierten sie. Anstatt sich gemeinsam zusammenzusetzen und nach einem Konsens zu suchen, verschwänden alle vereinzelt in ihren Smartphones und überböten sich dort in einem Wettbewerb der Grenzüberschreitungen. Populismus wäre die logische Konsequenz der Internetmedien und ebenso die autoritäre Konzentration von Macht. Ganze Gesellschaften würden so gespalten und Dialoge im Gezeter und Geschrei der enthemmten Aufmerksamkeitsökonomie verunmöglicht. Das Bequeme an dieser Erklärung: Niemand trägt die Verantwortung. Auf die Stein-, folgt die Bronze und Eisenzeit und jetzt wäre eben das Computerzeitalter. Da könne mensch nichts machen. Appelle an die Besitzer:innen sozialer Medien, gewaltvolle Kommunikation und Falschinformationen zu löschen, verhallten machtlos. Den Individuen sei auch nichts vorzuwerfen, schließlich würden sie von der Technik ebenso verführt, wie von schamlosen Populist:innen.

So interessant diese digitalen Vereinsamungsdiagnosen sind, so unvollständig sind sie auch. Gleichzeitig zur ideologischen Einkapselung haben die Menschen nämlich begonnen, so viel und intensiv politisch miteinander zu kommunizieren, wie vielleicht noch nie in der Geschichte. Die Welle des autoritären Populismus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in einem gewaltigen Demokratisierungsschub leben. Politische Diskussionen und Debatten haben in den letzten zehn Jahren massiv zugelegt. Migration, Klima, Geschlecht, Rassismus oder Corona: In fast jeder Familie und fast jedem Freund:innenkreis prallen Meinungen aufeinander. So oft und beständig, dass die Menschen einen gewaltigen Appetit auf Fakten, Argumente und Rhetorik entwickelt haben, den sie in einer Vielfalt an Medien stillen, die es so vermutlich noch nie gab. In all diesen Streits und Gesprächen werden die Sollbruchstellen und Abgründe deutlich, die selbst zwischen Verwandten und Freund:innen, Kolleg:innen und Bekannten liegen. Mitten im Alltag werden jetzt private Meinungen hochskaliert und auf ihre politische Tragweite hin abgeklopft. Die Demokratie radikalisiert sich: Anstatt nur elitäre Repräsentation zu sein, verwurzelt sie sich in den Gesellschaften. Es sind nicht die Intermetmedien, die Gesellschaften spalten. Sie führen nur die Spaltungen vor Augen, die jahrelang keine Repräsentation gefunden haben. Die Spaltungen der Gesellschaft liegen offen und es ist erstaunlich, wie tief die Gräben und wie groß die Unterschiede sind. Das ist dann auch der wahre Kern von so abstrusen Verschwörungserzählungen wie der von Echsenmenschen: Wir haben jahrelang eng mit Menschen zusammengelebt, die teils konträre Grundüberzeugungen hegen.

So schmerzhaft und aufwühlend die Debatten und Streits sind, so notwendig ist es auch, die Probleme, Ungleichheiten, Spannungen und die offene oder latente Gewalt endlich zu benennen. Ohne ideologische Gräben kann es keine Debatten geben und ohne Debatten kann es keine Demokratie geben und das Fehlen von Ideologien führt letztlich dazu, dass die Regierenden an den Gesellschaften und ihren Problemen vorbei regieren.

Endlich reden die Menschen. Endlich streiten sie.

Es ist dabei tatsächlich problematisch, dass die soziopolitischen Spaltungen von sozialen Medien kapitalisiert werden. Erschreckend ist allerdings, wie undemokratisch viele Menschen sind, wie wenig Streitkultur es gibt und wie undifferenziert und geschichtsblind, wie aggressiv und gewaltbereit so viele auf andere losgehen. Erschreckend ist, wie wenig Anerkennung es gibt für andere Positionen, noch erschreckender aber, wie gewaltvoll diese Streite von einigen eskaliert werden: infame Geschichtsvergleiche, Relativierungen der Shoa, Beleidigungen, Rassismus, Sexismus, Drohungen und Handgreiflichkeiten, die Weitergabe von Adressen an rechtsextreme Schlägertrupps, Beleidigungen, die sich zu Shitstorms steigern: Es fehlt an einer warmen Höflichkeit und damit meine ich kein gestelztes Gehabe oder Heiteitei, sondern eine Haltung der unbedingten Solidarität, die keine Gleichheit einfordert, sondern pluralistisch auf Verhandlung setzt. Es fehlt am Grundverständnis von Demokratie.

Die Steits haben eine materielle Basis: Am Grund der gewaltvollen Eskalation der Streite liegen gewaltige Krisen. Die Konflikte sind Ausdruck der Vielfachkrisen der letzten Jahrzehnte, die sich nicht mehr durch immer neues Wachstum überdecken lassen. Peak Everything ist überschritten. Parallel mit dem Wohlstand der wachsenden Mittelschichten wuchsen die Verwüstungen und Erschöpfungen. Der Kipppunkt, an dem der Sturm der Geschichte und des Fortschritts von den Stürmen der Klimaerhitzung an Stärke übertroffen werden, ist überschritten. Die Parabelflüge der Milliardäre ins All sind wie ein Bild auf die Moderne: Auf den Aufstieg und die Schwerelosigkeit folgt unweigerlich der Abstieg.

Die Menschen im globalen Norden wissen, dass sie auf Kosten anderer leben und sie wissen, dass sie ihr Leben nur durch Gewalt stabilisieren können. Es ist ihnen auch klar, dass Verteilungskämpfe anstehen und dass ihre Gewalt nicht mehr hingenommen wird, sondern zunehmend auf Widerspruch stößt. Die Gewalt der politischen Debatten ist eine Antwort auf die gewaltvolle Grundkonstitution unserer Gesellschaften. Es ist keine gute Antwort.

Aber Gewalt muss nicht mit Gewalt beantwortet werden. Die großen linken Protestbewegungen der letzten Jahre haben sich alle gegen Strukturen der Gewalt positioniert, die in privaten Beziehungen, Gefängnisse, Polizei, Recht, Politik und Naturverhältnis über Jahrhunderte normalisiert wurden. Sie wollen diese alltägliche Gewalt nicht mehr hinnehmen und aus den Teufelskreisen von Gewalt und Gegengewalt aussteigen. In den solidarischen sozialen Bewegungen der letzten Jahre wurden die Grundsteine für einen sozialen und politischen Wandel gelegt, die so radikal sind, dass sie durchaus als revolutionär bezeichnet werden können. Und wer die Vorsicht, Anteilnahme und transnationale Solidarität dieser Bewegungen erlebt hat, weiß, dass die Zukunft noch lange nicht verloren ist. Es ist den (queer-)feministischen, ökologischen und antirassistischen Bewegungen der letzten Jahre nicht nur gelungen, die Menschen für Gewalt zu sensibilisieren, sie haben gleichzeitig gewaltfreie Formen des Zusammenlebens weiterentwickelt.

Das Klima auf der Erde wird gemeinsam mit dem Klima der Debatten rauer. Die Klimakrise ist ein noch kaum fassbares Desaster. Für die Debattenkrise ist es höchste Zeit. Für einen demokratischen Wandel der Gesellschaft sind Verhandlungen und Positionierungen ebenso unabdingbar wie Streits und Polemiken. Wie immer in der Geschichte bleibt allerdings offen, ob die großen Umbrüche, die in diesen revolutionären Zeiten anstehen, friedlich oder gewaltvoll, demokratisch oder herrschaftlich gestaltet werden. Ob die Revolution oder die Konterrevolution gewinnt: Der Streit darum ist in vollem Gang.