Vorwort
Die letzten 4 Jahre habe ich an meiner Doktorarbeit zur Flucht in der politischen Theorie gearbeitet und für unser kleines Kind gesorgt. Ich habe an den Sandkästen mit einer zukunftslosen Generation gespielt und währenddessen zur Flucht an die Strände eines sich abschottenden Europas geschrieben.
In der Figur des flüchtenden Kindes überlagern sich die vergangenen und die kommenden Verwüstungen, verdichten sich Weltverlust und Zukunftslosigkeit. Die flüchtenden Kinder sind aber nicht nur paradigmatische politische Figuren des 21. Jahrhunderts, weil sie ihre Welt verloren haben, sondern auch, weil sie für ihr Recht auf Zukunft kämpfen. Anstatt sie zu machtlosen Opfern zu erklären, möchte ich ihre Fluchten deshalb als politische Handlungen beschreiben. Mit Mitleid und Menschenrechten allein lassen sich Grenzen und globale Herrschaftsstrukturen nicht aus den Angeln heben. Dafür braucht es die transnationalen Politiken der Flüchtenden und der solidarischen Bewegungen. Sie entfalten Gegengeschichten, entwickeln Slogans, schaffen Begriffe und Wahrnehmungsweisen, die staatliche und wirtschaftliche Gewalt benennen. Sie fordern Verantwortung und radikale Veränderung statt milder Gaben ein.
Wir Zukunftslosen verstehe ich als Teil all der Versuche, die Kämpfe an den Verwerfungslinien von Race, Klasse, Geschlecht zu verbinden. Das mutige „Wir“ des Titels bleibt aber ein uneingelöstes Versprechen. Ich habe keine Stimme gefunden, um eine politische Erklärung der Zukunftslosen zu schreiben. Das Buch macht sich trotzdem auf die Suche nach Standpunkten, von denen aus sich, zärtlich und verwundbar, kämpferisch und bündnisfähig, irgendwann einmal transnationale Solidarität denken ließe.
Migrationspanik
Fluchtbewegungen lösen in Europa schrille Panikreaktionen aus. Panzer und Soldat*innen werden an Grenzen geschickt und für Milliarden von Euro werden Mauern, Zäune und digitale Grenzbefestigungen hochgezogen. Europa setzt an seinen Außengrenzen auf die Zusammenarbeit mit autoritären Herrschern, Diktatoren, Paramilitärs und Milizen und macht sich so erpressbar. An den Grenzen wird scharf geschossen, Flüchtlingsboote werden abgedrängt und Menschen werden zu Tausenden dem Tod überlassen. Rechtsextreme Flüchtlingspolitiken spalten die europäischen Gesellschaften im Inneren mit chauvinistischem Populismus. Ein Jargon des Hasses frisst sich durch Medien und Politik. Demokratien werden zu autokratischen Staaten umgebaut. Grundrechte werden ausgehebelt und Gewalt wird normalisiert. Flüchtlingsunterkünfte werden angezündet und Menschen auf den Straßen attackiert. Terroranschläge zielen darauf, rechtliche und demokratische Grundordnungen aus den Angeln zu heben. Die rassistischen Flüchtlingspolitiken sind wie ein Brandsatz, der die Gesellschaften und Staaten ebenso wie die internationalen Beziehungen in Flammen setzt.
Gleichzeitig waren die Fluchtbewegungen 2015 gemeinsam mit den gewaltigen solidarischen Reaktionen, die sie auslösten, eine der größten sozialen Bewegungen, die es in Europa je gab. Während des langen Sommers der Migration engagierten sich Millionen von Menschen, leisteten Fluchthilfe, halfen an den Bahnhöfen und in Erstaufnahmeeinrichtungen. Tausende NGOs und soziale Netzwerke entstanden, die Wohnraum, Kleidung, Dinge des täglichen Bedarfs, Nachhilfe, Deutschkurse und Rechtsvertretungen organisierten. Freundschaften, solidarische und alle möglichen anderen Beziehungen verbinden die Sesshaften seither mit den Flüchtenden. Eine neue Welle von Kämpfen gegen Abschiebungen wurde mit großen Demonstrationen und den Blockaden von Wohnhäusern, Schulen und Flugzeugen bis in die Medien getragen. Der aktivistische Teil der Fluchtbewegungen organisierte Märsche und besetzte Plätze. Verschiedene Städtebündnisse setzen sich seither für eine solidarische Aufnahme ein und die politischen Bewegungen machten an den Grenzen nicht halt, sondern folgen den Fluchtrouten: Seenotrettungsschiffe wurden gechartert, Alarmphones für das Mittelmeer und die Sahara eingerichtet.
Europas Identitätskrisen
Aus organisatorischer Sicht kann es eine der größten Wirtschaftsmächte der Welt nicht überfordern, die ankommenden Menschen zu verteilen und ihnen ein neues Leben zu ermöglichen. Doch Europa bläst den Themenkomplex zu einem politischen Spektakel auf. Migrationspanik oder Solidarisierung? – Die gegensätzlichen Reaktionen auf die Ankunft einiger hunderttausender Flüchtender im Jahr decken die Spaltungen innerhalb der europäischen Gesellschaften schonungslos auf. „Wie hältst Du es mit den Flüchtlingen?“ – Die Frage ist zur politischen Gretchenfrage geworden, an der sich die Zerrissenheit ganzer Gesellschaften ablesen lässt. Die Begegnung mit den Flüchtenden wurde zu einer Art politischem Wahrheitsmoment, mit dem seither eine grundsätzliche ideologische Positionierung eingefordert wird. Politische Rechte und Linke spalten sich an dieser Frage. An ihr verhandeln Europäer*innen, was Freiheit, Gleichheit und Solidarität bedeuten sollen. An ihr soll sich entscheiden, was demokratisch ist, ob der Wohlfahrtstaat eine Zukunft hat und ob der globale Kapitalismus Freiheit oder Gewalt bringt. Die Flucht wurde so massiv politisiert und mit allen nur erdenklichen Fragen überladen, dass es offensichtlich in den Debatten nicht mehr um die Flüchtenden, sondern um ein fundamentales Selbstverständnis geht.
Wenn die Menschen in Europa über Flucht sprechen, dann sprechen sie über sich selbst. Darüber, wer sie waren, sind und sein wollen. An der Frage der Flucht soll sich klären lassen, was ein gutes und was ein schlechtes Europa ist. Öffentliche Flüchtlingspolitiken sind zu einem großen Teil politische Nabelschau der Europäer:innen, die von der Begegnung mit den Flüchtenden nicht nur aus dem Tritt gebracht, sondern existenziell verunsichert werden. Die europäische Identität scheint im Umgang mit Fluchtbewegungen auf dem Spiel zu stehen. Eigentlich sollten es die Flüchtenden sein, die um ihre Identität ringen, wenn sie ihre Geschichten erzählen, ihre Fluchtgründe belegen und ein neues Leben beginnen müssen. Es stellt sich allerdings schnell heraus, dass die Flüchtenden im Fluchtspektakel nur wenig zu sagen haben. Es wird über sie berichtet und über sie gestritten, es wird über sie entschieden und über sie nachgedacht. Sie selbst tauchen dabei meist gar nicht auf. Identitätspolitik wird immer wieder abgetan als Problem von Minderheiten, dabei machen die politischen Kämpfe um die Flucht vor allem eines deutlich: Die „normale“ Identität der Mitte steckt in der Krise. Wer sind die Europäer*innen? Wie können sie behaupten, sich für Menschenrechte und Demokratie einzusetzen, wenn sie Zehntausende an ihren Grenzen sterben lassen? Wo liegen die Grenzen ihrer Plädoyers für Demokratie und Rechte? Wollen sie sich liberal oder sozial, demokratisch oder autoritär organisieren? – Mit der Ankunft von Flüchtenden werden fundamentale ideologische Fragen gestellt. An den Flüchtenden wollen die Menschen in Europa ihre politischen Wahrheiten ablesen.
Die Zerbrechlichkeit der Sesshaften
Die extremen Reaktionen auf Fluchtbewegungen, die Wellen aus Panik und Euphorie, Hass und Mitleid, Abwehr und Vereinnahmung deuten aber weniger auf eine universale Wahrheit als vielmehr auf einen neuralgischen Punkt im Selbst- und Weltverhältnis in Europa. Es gibt eine autochthone Fragilität, eine Zerbrechlichkeit der Sesshaften, die durch die Begegnung mit Flüchtenden getriggert wird. …
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