Über dem aufgegebenen alten Hafen steht eine Frau aus Stein und schaut auf den Atlantik. Auf der Plakette am Sockel steht: Frau eines Fischers. Im Dorf gibt es kaum mehr Fischer. Bei Sturm werden schillernde Quallen angespült, portugiesische Galeeren, mit ihren meterlangen Tentakeln. Ansonsten kommen täglich europäische Tourist*innen und sammeln sich abends in den Restaurants.
Neben der Statue sitzt M. auf ihrer Terrasse und singt Popsongs. Sie vermietet ihr Schlafzimmer übers Internet und mit einem bunten Pappschild im Fenster. Wenn Touristen da sind, zieht sie mit ihrem Sohn auf das Sofa ins Wohnzimmer. Trotz der malerischen Lage ihres Hauses und des mit Abstand niedrigsten Preises im Dorf ist sie damit nicht allzu erfolgreich. Sie kommt gerade so durch.
In ihrem Fenster steht eine Kopie der Frauenstatuen der indigenen Guanchen. Die Tonstatue wartet nicht auf irgendjemanden, sie ruht im Schneidersitz auf ihren gewaltigen Oberschenkeln. Bei Ausgrabungen war man auf diese Tonstatuen gestoßen und hatte auf eine maternalistische, indigene Kultur geschlossen. Die Kolonisation hat diese Kultur größtenteils vernichtet. Wer nicht in den indigenen Rebellionen getötet worden war, wurde durch ein hartes Arbeits- und Reproduktionsregime unterworfen. Die indigene Kultur löste sich in der Kultur der Kolonisatoren auf und geblieben sind nur noch einige Hybride, wie die Pfeiffsprache „El Silbo“ oder die traditionellen Ringkämpfe, die sich als Touristenattraktionen vermarkten lassen und gleichzeitig sozialen Zusammenhalt schaffen.
M. war vor einem Jahr von Gran Canaria aus mit der Fähre gekommen, war vorbei gefahren an den stählernen Skeletten der Ölbohrplattformen, die im Hafen von Las Palmas liegen, nach und nach abgewrackt werden. M. und ihr Sohn waren in das malerisch herunter gekommene Haus auf Fuerte Ventura gezogen, in dem ihr Vater bis zu seinem Tod gewohnt hatte. Schräg gegenüber liegt ein Restaurant, das nicht nur Fisch und Meeresfrüchte serviert, sondern auch als Umschlagplatz für Kokain und Marihuana dient. Zwielichte Gestalten nutzen den Nebeneingang, was den Tourist*innen aber nicht auffällt, die ihr Sohn und seinen Freunden beim Ballspielen zuschauen und den Blick aufs Meer genießen, über dem die bunten Segel der Kitesurfer*innen tanzen.
Zweimal pro Woche kommt ein Rockerpärchen vorbei und untermalt die Sehnsucht der angereisten Städter*innen mit Musik. Sie legen ein Stromkabel aus dem Restaurant, stellen ihr Equiment auf den Sockel der Frauenstatue direkt vor M. Haus und spielen ihr immergleiches Programm. Die beiden großen Boxen beschallen den ganzen Hafen. Manchmal tanzen angetrunkene Tourist*innen.
M. kennt mittlerweile jede Zeile und jeden Riff des Programms. Sie ist genervt von der Melancholie und Tristesse der Songs. M. selbst singt lebensfrohe Popsongs, die Geschichten aus der ganzen Welt erzählen. Vielleicht wartet die Statue vor der Tür nämlich nicht nur auf die Heimkehr der Männer, vielleicht träumt sie sich hinaus über den Atlantik und wartet auf eine Gelegenheit, die Insel endgültig zu verlassen. M. übt Gitarre und nimmt Gesangsstunden, um bald in den Restaurants auftreten zu können.
Jeden Dienstag und Donnerstag fragt M. die beiden Rocker*innen, ob sie nicht leiser spielen könnten, aber die zucken nur mit den Schultern. Die Tourist*innen würden es mögen. Der Besitzer des Restaurants zahle eine kleine Gage. Der Platz sei ideal und sie kämen ja nur zwei Mal die Woche.
Ihr Kind kann zwei Mal die Woche nicht schlafen. M. hat darum versucht die Polizei zu holen, damit wenigstens ab 22h Ruhe ist. Manchmal kam die Polizei sogar, aber jedes Mal verschwand sie im Restaurant, um danach tatenlos abzuziehen.
In zwei Wochen hat M. ihr erstes Konzert in einem Restaurant am neuen Hafen. Sie übt den ganzen Tag. Seit Donnerstagmittag sitzt sie auf der Terrasse und singt. Die Band baut auf und beginnt zu spielen. Sie singt einfach weiter, auch wenn sie nicht ankommt gegen die Lautsprecher. Eine Freundin kommt vorbei und summt mit. M. steht auf und geht zielstrebig ins Restaurant. Sie streitet sich mit dem Besitzer, vor den Gästen.
Sie kommt totenblass zurück und stolpert ins Haus. Eine Freundin hinterher.
„Er ruft die Menschen an, die Kinder holen.“
Sie läuft hektisch um den Tisch.
„Er nimmt mir meinen Sohn weg.“
Die Freundin hält sie fest und legte ihr die Hände auf die Schultern.
„Was hat er gesagt?“
„Er hat gesagt, wenn ich nicht aufhöre zu singen und mich noch einmal beschwere, ruft er die Menschen an, die kleine Kinder mitnehmen, und nimmt ihn mit weg. Er ist gefährlich. Er dealt Koks.“
Die Freundin setzt M. auf einen Stuhl am Tisch und holt ein Glas Wasser. Dann geht sie raus und kommt mit der Rockerin zurück. M. schluchzt aufgelöst. Die drei Frauen sitzen am Tisch.
„Er blufft nur.“, sagt die Rockerin tröstend, „er ist auf Koks.“
„Wie könnt Ihr für so ein Monster spielen?“
„Wir…“
„Er darf das nicht tun! Ich rufe die Polizei! Ich…“
Die drei sitzen da.
„Wir werden aufhören heute. Und wir werden leiser spielen, vor allem nachts.“
M. weint leise. Die Freundin streichelt ihren Rücken.
Die beiden Rocker packen ihr Equipment ein. Die Tourist*innen essen Fisch. Die Guanchenstatue sitzt im Fenster. Die Frau aus Stein schaut aufs Meer.